In der Regel kommt es anders als man denkt. Und da ich gerade menstruiere, werfe ich das Konzept einfach mal um und schubse euch mitten in die Situation hinein. Also …
Es war Freitagnachmittag und im Gegensatz zu sonst war es in der Stadt sehr laut. Von überall her strömten Geräusche, Gerüche und Emotionen zu mir herüber, dass es mir schwerfiel, ganz bei mir zu bleiben. Doch der leckere und wunderschöne Latte macchiato hatte noch seine schützende Hand über mich, das zumindest meine ich da. Doch nach dem sehr lieben Plausch und dem sehr leckerem Mittagessen wollte noch eingekauft werden; schließlich war die Zündung gesetzt und damit war der chemische Countdown eingeleitet – die Zutatenliste für eine kleine Katastrophe stand.
Latte macchiato + Zigarette = Cortisol + Koffein + Nikotin
Ich brauchte noch einige Lebensmittel und etwas aus dem dm. Da ich nicht unbedingt bei dem warmem Wetter mit Kühlkost durch den dm und den kompletten Weg nach Hause will, schlich ich mit meinem freitäglichen Besprechungskäffchenpartner durch den EDEKA. Und wenn ich eben beim Latte macciato dache, das sei eng, war das Ergebnis von dort noch einmal quadratiert worden! Mehr Gerüche. Die Geräusche lauter als draußen. Kaum durch die Tür, schlugen mir Emotionsbomben um die Ohren – eine nach der anderen, als wäre EDEKA auf Krawall gebürstet.
Nach ein paar Mal tief durchatmen und Schultern heben und senken, dachte ich, ich sei gewappnet. Doch wie immer hatte ich den Faktor X vergessen, die Dummdreistigkeit anderer Menschen. Immer darauf bedacht, auch wirklich bei mir zu bleiben, schoben der BK-Partner und ich uns durch den scheinbar immer enger werdenden EDEKA. Manchmal habe ich ja die Befürchtung, die Zombiekalypse wird genau dort anfangen, so langsam wie manche Menschen laufen. Zumindest erinnern sie mich immer an schlurfende Zombies. Es kann auch mein queerer extraschneller Gang daran „Schuld“ sein, dass ich so empfinde, besonders bei besonders langsam laufenden Menschen. Ein langsamer Mensch vor mir, ein anderer Mensch mit Einkaufswagen kam uns entgegen und dann kam hinter dem Einkaufswagen-Mensch noch eine andere Person auf uns zu, meinte sich zwischen all dem durch zu drücken. Hinter mir tauchte noch ein weiterer Einkaufswagen auf und diese dumme Pute von Mensch, vermutlich auf Selbstoptimierungstour zwischen Ayvar und Aufschnitt, hatte offenbar keine Zeit für sowas wie Raumgefühl. Mal abgesehen davon, dass dieser gefiederte Mensch nicht nur mir viel zu nahe kam, sie drückte mich auch noch gegen die Türen der Kühlregale des EDEKAS. Und genau DAS war der Punkt, an dem mein Nervensystem entschloss, mal kurz Rücksprache mit mir zu halten, ob das wirklich eine soooo gute Idee war, hier und jetzt einkaufen zu wollen. Die Anfrage kam durch Gänsehaut und erhöhtem Pulsschlag. Da ich ja inzwischen mein Anfragesystem überholt hatte, verstand ich die Signale und griff routiniert in meine Backentasche zum Röhrchen, in dem sich Salz und ein Duftölgemisch namens „Inneres Kind“ befand. Doch leider stellte ich fest, dass das Röhrchen in der üblichen Tasche geblieben ist; nämlich in der Jeans, die ich gestern anhatte. Wer konnte denn auch ahnen, dass das hier zu einer Herausforderung wächst?
„Klar, lass uns ohne Schutzöl in den emotionalen Dschungel spazieren – was kann schon schiefgehen?“ DAS war die Stimme meines inneren Kindes, welches ich eben noch mit dem Duftöl beruhigen wollte. MiniMe, mein persönlicher Anker und gleichzeitig der kleine Punk in mir, der mit Nietengürtel und Mittelfinger durchs Nervensystem rennt, wenn’s zu viel wird. Er war übrigens not amused! Er packte alle Stricke und zog einmal heftig daran. Das hieß für mich in diesem Moment Panikattacke. Bei mir zeigt sich sie sich so: Übelkeit, Gänsehaut, der Magen zieht sich zusammen. Die Optionen? Flucht, Kampf oder Einfrieren. Ich wollte keine Option wählen. Ich wollte einfach nur zur Kasse. Bezahlen. Raus. Durchatmen. MiniMe hatte andere Pläne: „Okay, wir brauchen heute also den DEN Hebel!„, schien er sich zu denken und zog den Körper in die Dissoziation. Für mich bedeutet das: Eine schwarze Wolke. Aus Nichts. Um mich herum. Kein Außen, kein Innen. Ich bin da, aber nicht ansprechbar. Keine Reaktion. Nichts. Und dann – ganz langsam – drang die Stimme meiner Begleitung durch diese Wolke, erst dumpf, dann etwas klarer. Ich konnte reagiern. Nicht, dass ich kapiert hätte, was er sagte. Aber ich schaute ihn an und murmelte: „Panikattacke mit Dissoziation.“
War es wirkliches Interesse? Wollte er mich ablenken? Ich weiß es nicht, habe aber auch bis jetzt nicht nachgefragt. In dieser Situation war ich auf jeden Fall dankbar dafür, dass er gefragt hat, wie ich die Panikattacke so schnell hinter mich lassen konnte. Denn es stimmte, vor einem Jahrzehnt konnte meine Panikattacke durchaus viel länger anhalten. Dafür gab es da aber auch noch keine Dissoziationen. Also erzählte ich, was ich alles in meinem Klinikaufenthalt* gelernt hatte. Instinktiv hielt ich dabei meine Hand an die Stelle, an der mein Magen ist und rieb sie. Wenn wir uns nicht unterhielten flüsterte ich in meinem Inneren zu MiniMe: Ich spüre Dich. Ich bin bei Dir. Ich verlasse Dich nicht. Du bist sicher bei mir. Innerlich murmelnd und äußerlich reibend und plaudernd schoben wir uns wieder weiter durch den EDEKA auf dem Weg der Kasse zu. Kurz vor meinem Ziel, ich wollte schon durchatmen, kam dann doch noch eine kleine Testeinheit vom Universum, ob ich das eben erlernte Wissen umsetzen könnte in Form eines Kunden. Er meinte, dieses fancy Gadget von Handy als Freisprecheinrichtung zu nutzen und lief damit laut teleofonierend durch den Laden und direkt an mir vorbei. Dieses Mal wollte ich weder unterdrücken noch zuschlagen. Also entschied ich mich für einen verbalen „Weißt Du eigentlich, dass Du der akustische Albtraum dieser Filiale bist?“-Sticker und stellte ebenso ziemlich laut fest: „AAAAAH! EIN FERNGESPRÄCH!“ Ich hörte die Stimme am anderen Ende etwas fragen und auch der Lautsprecher-Heini schaute mich fragend an, sagte jedoch nichts. Ich reagierte nicht, denn MiniMe warf noch einen Mittelfinger hinterher.
Warum ich euch das wissen lasse? Also zum einen saß ich eben nichtsahnen auf dem Sofa und schaute The Last of Us, erkannte beim Hauptdarsteller einen Flashback, der im Übrigen aus meiner Sicht ziemlich gut dargestellt wurde. Ich war entspannt und freute mich, dass ich das endlich erkannte. Ich ließ den Freitag vor meinem Auge noch einmal vorbeilaufen und merkte dann, was ich dort erlebt hatte und wie intuitiv ich gehandelt hatte. Freitag habe ich mich, nachdem ich es aus dem Endgegner EDEKA geschafft hatte, gefragt, wieso so viele Menschen unterwegs waren und alle so ein bisschen wie aufgekratzt wirkten. Doch eben auf dem Sofa sitzend, mit etwas zeitlichem Abstand, fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren.
- Letzter Tag des Monats und Geld kam rein
- Warmes Wetter, alle wollten wohl draußen spielen.
- Brückentag nach Feiertag = freie Menschen + kollektiver Lagerkoller
- Supermark? Wird zur Kathedrale des Wahnsinns.
Und ich war zwar nicht mutterseelenallein, doch aufrecht, meinem Kopf voller Achtsamkeit und einem Herz voller MiniMe, mitten rein in die glitzernde Hölle aus Fernsprech-Gollum und Ego-Einkaufswagen.
Und zum anderen ist vielleicht jemand unter euch, dem es so oder ähnlich geht. Dann möchte ich Dir sagen: Du bist nicht falsch! Und Du bist auch nicht „zu empfindlich“, „zu dramatisch“, „zu schwach“. Dein Körper reagiert, weil er Dich beschützen will. Und auch wenn es sich manchmal wie Kontrollverlust anfühlt – es ist eigentlich der Versuch Deines Systems, Dich irgendwie zu retten.
Ich sehe Dich und MiniMe verneigt sich. Und wenn Du mal wieder mitten in Deiner eigenen Kathedrale des Wahnsinns stehst: Du bist nicht allein. Vielleicht hilft Dir das Wissen, das wir irgendwann rausfinden, wo unsere Türe ist. Und wie wir sie öffnen.
Denn ich möchte euch Lesern erzählen, was ich auf meinem Weg dorthin gelernt habe. Nicht als Lehrbuch, sondern als jemand, der selbst regelmäßig noch den Kompass verliert, aber sich nicht mehr dafür schämt, ihn wieder zu suchen.
* Da es in der Klinik einige Regeln gab, gehe ich nicht direkt auf diesen Besuch ein. Dennoch wird es die eine oder andere Reise mit Mitpatient*innen hier zu lesen geben.
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