Was ich nun niederschreibe und ihr lesen werdet, schreibe ich ohne Wertung oder Anklage. Es sind Tatsachen, die ich hier fest halte. Denn vielleicht erkennst Du Dich darin wieder. Oder hast einen Menschen in Deiner Umgebung, dem es ähnlich geht oder ging und Du es verstehen willst. Und zum Teil schreibe ich es auch auf, um es endlich verarbeiten zu können. Damit es raus aus meinem Kopf ist. „Ja, aber Sam, warum schreibst Du es nicht in Dein Tagebuch und belästigst uns damit?“ Weil ich mit einige Narrative aufräumen will.

1. Blutsverwandschaft ist kein Freifahrtschein

Wenn Dich jemand schlägt, bis Du nicht mehr sitzen kannst oder Dir das Gefühl gibt, falsch zu sein, dann kann man zurück schlagen oder die Person anzeigen. Denn es wäre Misshandlung. Aber wenn es ein Familienmitglied macht, dann „meinen sie es nur gut“. Wer hat diesen Bullshit in die Welt gesetzt? Misshandlung bleibt Misshandlung, egal, welcher Zuckerguss darüber geschüttet wurde. Blut ist dicker als Wasser? Vielleicht, aber Respekt ist dicker als beides.

2. Kontaktabbruch ist keine Rache, es ist Selbstschutz

Als Mensch, der den Kontakt zu seinen Eltern und der kompletten Familie abgebrochen hat wäre Rache einfacher. Ich brauche dafür nicht meine Nummer ändern, meinen Umzug verheimlilchen und schauen, dass ich die Städte und Orte meide, in denen sie sich aufhalten. Es wäre einfacher für mich, würde ich wirklich Rache wollen, hielte ich den Kontakt. Nur alleine um Angriffspunkte zu finden, an denen die Rache ansetzen könnte. Nungut, ich hätte genug Wissen, mich auch ohne Kontakt an ihnen zu rächen zu können. Dazu haben sie mir ihre Schwachstellen häufig genug gezeigt. Wenn ihnen mal wieder die Hand ausgerutscht ist. Wenn sie mal wieder einen Kommentar gesagt haben, der mich in meinen Grundfesten erschüttert und verletzt hat.

Es würde mein Leben auch um einiges einfacher machen. Ich bräuchte nicht jedes Mal erklären, wieso ich den Kontakt abgebrochen habe, wenn es um Diagnostik und Vergangenheitsbewältigung geht, in denen ich eine Einschätzung aus Kindertagen bräuchte. Diskussionen, in denen es generell um Familienfeiertage wie Weihnachten oder Ostern geht. Oder auch vor mir, wenn ich wieder wanke und denke: Reagiere ich vielleicht über? So schlimm war es nicht. Oh doch, es war so schlimm. Denn DAS ,meine verehrten Leserinnen und Leser, ist die erste Lektion, die man als Kind zum Thema „Gaslighting“ erfährt. Gaslighting bedeutet nach Wikipedia eine Form von psychischer Manuipulation, mit der das Opfer gezielt desorientiert, verunsichert und ihrem Realitäts- und Selbstbewustsein allmählich beeinträchtigt wird.

Und genau da setzt der Selbstschutz ein. Ich für meinen Teil bin endlich in der Situation, dass ich mental so gefestigt bin, den Schlussstrich zu ziehen. Mir geht es nicht um Rache, wie schon gesagt, sondern um den Schutz meines Selbst.

3. „Aber sie haben Dich doch großgezogen…“

Wie meine Erzeugerin es schon in meiner Kindheit gesagt hat: Niemand hat mich gefragt, ob ich auf die Welt kommen will. Und groß ziehen heißt mehr, als zu schauen,  dass das Kind die Volljährigkeit erreicht, ohne dass es vorher tot- oder kaputtgeprügelt wird. Und beim Versuch, mich groß zu ziehen haben sie mich zerschlissen und mich in Gefahr gebracht. Ich habe aufgehört, nachzuzählen, wie oft ich dachte, dass ich nun sterbe. Wie oft ich dachte, dass ich das nicht überlebe, körperlich und emotional.

Und zur Aussage „Aber sie haben Dir zu Essen gegeben und ein Dach über dem Kopf.“ kann ich nur sagen: Ich kann meinem Feind auch Brot und eine Zelle geben und ihn dabei verletzten, aber nicht so, dass er stirbt. Liebe braucht mehr als Nahrung und eine Wohnadresse.

Und großziehen unter dem Blick, immer als Konkurenz gesehen zu werden, ist auch nicht gesund.

4. Ich bin nicht die Ursache an dieser Dynamik

Wie oft habe ich gehört: „Du übertreibst!“ „Du bist Schuld, dass ich so handeln muss.“ „Gleich gebe ich Dir einen Grund zum weinen!“ Ich war verdammt noch einmal ein Kind. Und sogar mein heutiges Nervensystem erzählt eine andere Warheit. All die Opfer waren nie die Ursache dafür. Wir waren vielleicht ein Auslöser. Aber noch einmal: Es ist und war nicht Deine und auch nicht meine Aufgabe, emotionale Unterstützung für die Eltern zu sein; sie aufzufangen. Das nennt man dann nämlich Parentifizierung.

5. Aber sie haben sich doch entschuldigt

Entschuldigungen heilen keine tief sitzenden Wunden. Sie ändern auch nicht die Programmierung des Nervensystems. Und der Schaden, der angerichtet wurde, wird dadurch auch nicht beseitigt. Das Verhalten, sich gewalttätige Partner, sei es emotionaler oder physischer Natur, zu suchen, löst sich dadurch auch nicht in Wohlgefallen auf. Und Reue ist kein Radiergummi für blaue Flecke von Händen, Kochlöffel oder Hausschuhe. Die meisten erwarten Vergebung und dass man ihre Tränen trägt. Und eine Entschuldigung hebt nicht plötzlich die ganzen Versuche auf, in denen ich zumindest den Mut gefasst habe, mich zu öffnen. Die Situationen, in denen ich es gewagt habe, zu sagen, was ich denke, wie ich mich fühle. Nein, der Schaden bleibt und macht es auch nicht leichter, die Angst im Nervensystem auszuhalten. Es macht den Schlaf nicht tiefer. Es mindert nicht die Alarmbereitschaft, die bei minimalster Änderung anderer in der Stimmlage oder Lautstärke anspringt. Es ändert rein gar nichts.

Ich schulde ihnen nichts, aber mir alles!

Einer meiner Erzeuger*innen sagten so oft, dass es andere Kinder schlechter hätten, als ich und ob ich da hin möchte. Nicht nur heute denke ich oft, dass das vielleicht gar keine schlechte Idee gewesen wäre. Vielleicht wäre es mir tatsächlich schlechter im Kinderheim ergangen, aber anders. Denn das System, was mich groß gezogen hat, funktionierte nicht auf Liebe und Geborgenheit, es war ein System aus Macht, Angst und Kontrolle.

Und meinem inneren Kind schulde ich alles. Alles, was es schützt und liebt. Und wenn es dafür auch heißt, meinen eigenen „Eltern“ den Rücken zuzudrehen, dann mache ich das. Denn mein inneres Kind und meine Wunden heilen nicht durch „Es tut mir leid!“, es heilt durch Taten. Und diese Taten haben in der Vergangenheit an mir genug Wunden angerichtet, an dem ich nach über 30 Jahren noch immer arbeite, sie zu heilen.

KEIN Kind der Welt bricht einfach so und aus einer Laune heraus den Kontakt zu seinen Eltern ab. Es ist der letzte Ausweg, für sie und mich aus einem ungesundem Umfeld auszubrechen.

Und solltest Du ein Elternteil sein, dessen Kind den Kontakt zu Dir abgebrochen hat, tut es mir wirklich leid für Dich, doch Du hast es verkackt!