Es könnte die Einleitung zu einem verdammt guten Witz sein: Drei Peoplepleaser gehen zum Friseur. Doch was sich wirklich abspielte, war eine Mischung aus Mikrogrenzen setzen und doch gerecht werden, sich und anderen.
Nachdem ich persönlich sowohl körperlich als auch emotional in der Klinik wirklich angekommen bin, verflogen die anfänglichen Kommunikationsprobleme. Ich fand sehr schnell heraus, bei wem ich was sagen konnte und bei wem man besser 3x überlegte, auch nur ansatzweise etwas zu sagen. Zum Teil aus Schutz der eigenen Situation, aber auch aus Respekt der Person gegenüber, wir waren schließlich nicht umsonst in dieser Klinik. Und dass man über seinen Grund, wieso man dort war, nicht sprechen durfte, fand ich sehr angenehm. Denn es gab noch so viele andere Themen, über die man sich austauschen konnte. Und das sahen auch Theodoria und Hildegard so. Wir waren drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, in so vieler Hinsicht. Ja, zu dieser Zeit sah ich mich noch als Frau. Doch uns einte ein Laster: Das Rauchen. Daher sahen wir uns immer häufiger gleichzeitig an den Raucherinseln oder im Raucherraum, der nachts geöffnet war; er war ein richtiger Luxus.
In eben so einer Situation beschlossen wir drei, am Folgetag in therapiefreier Zeit, zum Friseur zu gehen. Der Friseur lag etwas weiter weg, aber zu dritt in dieser Kombi war der Weg für keinen von uns ein Problem. Wir plauderten und spazierten, immer darauf bedacht, auch freundlich zur Umwelt zu sein. Aber nicht ohne ein bisschen der Schutzblase, in die uns die Klinik einpackte, mit zu nehmen. Und natürlich fragen wir drei immer wieder bei den jeweils anderen nach, ob das Tempo so okay sei oder ob wir langsamer gehen sollten. Natürlich ist mir DAS zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht aufgefallen, was dahinter lag. Ich fand diese Art von Kommunikation, auch die nonverbale so achtsam. Endlich jemand, der auch auf seine Umwelt Rücksicht nahm. Ich fühlte mich so angenommen.
Als wir am Einkaufszentrum, in dem der Friseur lag, ankamen und die finanziellen Sachen geregelt waren, einige wollten noch Geld abheben, und wir vor der Türe des Friseurs ankamen, ist es mir das erste Mal aufgefallen. Da standen wir drei und haben uns fast gestritten, wer nun die Türe aufhalten durfte und wer zuerst durchgehen sollte. Jede ließ den anderen den Vortritt. Von innen muss es sicherlich erheiternd ausgesehen haben, wie wir da standen und diskutierten. Und die Wortgefechte hörten nicht auf, denn innen waren nur zwei Stühle und wir waren ja zu dritt. Jede von uns wollte diejenige sein, die stehen würde, zum Wohl der anderen. Als dann noch eine weitere Kundin mit einer Krücke in den Salon kam, sprangen wir beide, die saßen natürlich auf, damit das Ehepaar sich setzen konnte. Hildegard, die eindeutig die kommunikativere von uns dreien war, wurde auch sofort von den beiden in ein interessantes Gespräch verwickelt. Und es passierte, was so oft passiert, sie redeten von ihren Krankheiten. Hildegard hörte sich alles ganz genau an, während ich innerlich die Augen rollte. „Man erschieße mich bitte, wenn ich im Alter nur noch meine Krankheiten als Gesprächsthema habe!„, schoss es mir durch den Kopf. Immerhin wurde die Situation aufgelöst, als die erste von uns drankam. Natürlich wiederholte sich dort das gleiche Spiel, bis es mir ein wenig zu bunt wurde und ich die Rolle der Ersten übernahm. Ich hörte auf dem Weg zum Friseurstuhl Hildegard sagen: „Wissen Sie, man kann auch anderes als Krankheiten sammeln.“ Innerlich konnte ich kaum mehr, musste mir sehr das laute dreckige Lachen verkneifen. Doch Hildegard meinte das auf keinen Fall böse. Es war ihre Art zu sagen, dass es noch andere, schönere Dinge im Leben gab.
[Zwischenanmerkung: Hildegard, Theodoria und ich sind uns einig, dass unsere Todesursache „Sarkasmus im falschen Moment“ sein wird. Denn ähnlich wie dieser Satz rutschen uns beiden anderen auch an den unpassensten Stellen solche Sprüche raus, die man auf jeden Fall auch falsch verstehen kann, wenn man denn nur will. Und dazu braucht man sich nicht einmal anstrengen.]
Doch die Friseurin holte mich schnell wieder auf den Boden der harten Realität zurück. Nicht, dass sie unfreundlich war, sie war nur eben anders, kein dreimaliges Nachfragen,ob es wirklich so in Ordnung war. Dann hörte ich, wie die zweite Friseurin einer der beiden Frauen aufforderte, die zweite zu sein. Das Schauspiel aus der Entfernung mit an zu sehen war sehr erheiternd. Doch noch immer verstand ich noch nicht genau, was da passierte. Ich nahm es wahr und merke, es war außergewöhnlich, anders und doch so bekannt für mich. Hildegard war die zweite von uns, die neben mir auf diesem Friseurstuhl Platz nahm. Immer mal fragte sie nach, ob man an ihren Haaren dies oder das machen könnte, aber nie ohne den Anhang „Aber nur, wenn es keine Umstände macht.“ Ich hingegen ließ die Prozedur mit meiner stoischen Gelassenheit über mich ergehen und wagte es nicht, der Friseurin zu widersprechen. Ich war einfach froh, dass mein Sidecut keine eigene Postleitzahl mehr hatte, so viel Platz wie die nachwachsenden Haare eingenommen hatten. Als ich endlich fertig war, mir dauerte das ganze viel zu lange und ich merkte, wie mein sozialer Akku immer weiter leer wurde, setzte ich mich auf den Stuhl und wartete auf meine zwei Mitpatientinnen. Es war angenehm, einfach nur da zu sitzen und etwas Energie zu sammeln. Ich verstand da nicht, wieso mein Akku schon mindestens zur Hälfte leer war; waren wir doch nur hierher gelaufen und waren erst beim Friseur. Und wie wollte ich bitte die anderen beiden fragen, ob wir noch ins Warenhaus nebenan gehen wollten? Schließlich haben sie sicherlich noch andere Sachen vor und ich wollte nicht ihre Pläne beeinflussen.
Doch darum brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Sobald wir mit zig Mal Danke sagen und der üblichen Streiterei, wer nun die Türe vom Friseursalon öffnen durfte und wer zuerst durchgehen konnte, kam das niedlichste Wortkarusell, was ich bis dahin je erlebt habe.
Theodoria (auf den Eingang zeigend): Also, wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich gerne noch da durch.
Hildegard und ich (fast im Chor): Natürlich haben wir nichts dagegen!
Theodoria wieder: Das wäre sehr gut, ich habe nämlich keine Zahnpasta mehr, aber ich kann sie auch woanders kaufen. Also, wollt ihr da noch rein?
Hildegard: Ich muss da nicht unbedingt rein, wenn ihr nicht gegen wollt.
Ich: Also ich brauche nichts, nichts was nicht warten kann oder ich alleine besorgen kann, morgen oder so.
Theodoria: Ja ne, dann brauchen wir da nicht rein. Ich kann die Zahnpasta auch woanders ein anderes Mal besorgen.
Hildegard und ich (beschwichtigend): Klar können wir da rein, wenn Du was brauchst, Zahnpasta ist wichtig!
Theodoria, (erklärend): Aber ich will euch auch nicht aufhalten, wir müssen ja noch zurück laufen. Und vielleicht habt ihr noch etwas anderes vor.
Ich dachte, hier wäre der richtige Punkt, mein Anliegen vorzutragen: Also, wenn wir nicht hier rein gehen wollen, ich kann meinen Instantkaffee auch beim anderen Supermarkt alleine einkaufen gehen. Aber wir können auch hier rein gehen.
Nun schauten beide mich an und einer von ihnen ergriff das Wort: Ich verstehe, zu lange aufeinander gehockt, oder? Also ich würde schon da reingehen, aber nur wenn ihr zwei noch Energie habt.
Ich verkniff mir ein Lachen, denn nun verstand ich endlich, was hier passierte. Was haltet ihr davon, wenn wir erst einmal eine rauchen gehen und dann noch einmal bisschen gucken. Dann kann ich meinen Kaffee und Theo ihre Zahnpasta kaufen. Wir stimmten alle in mein Lachen mit ein und begaben uns zum Ausgang. Dort sahen wir auch, wieso wir alle drei noch einmal hinein mussten: Es regnete und natürlich hatte keiner von uns einen Regenschirm dabei. Na wenn DAS kein Grund war, einkaufen zu gehen?!
Natürlich hörte dieses Karusell des Pleasings nicht mit Ende der Zigarette auf, wir zogen es durch; durch den kompletten Laden. Und auch noch auf dem Rückweg in die Klinik. Abends, als ich alleine auf meinem Zimmer war, mein Tagebuch schreibend, verstand ich erst so wirklich die komplette Tragweite des Tages und unser Verhalten. Auch den anderen ist es aufgefallen, wie wir am Ende des Tages bei unserer letzten Zigarette im Raucherraum feststellten. Wir waren uns aber auch einig, dass wir lieber so waren, als so rücksichtlos, wie viele Menschen da draußen und dass die Klinik eine große Blase des Schutzes um uns baute. Und keiner von uns fand den verbrachten Tag auch nur ansatzweise unangenehm, klar anstrengend war er, aber nicht unschön.
Wir peopleleasten uns bis zum Schluss – bis Hildegard ging.
Und mit ihr auch ein Stück unserer Dynamik.
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